Update Kapitalmarkt- und Gesellschaftsrecht: Die Virtuelle Hauptversammlung 2.0
Update Kapitalmarkt- und Gesellschaftsrecht: Die Virtuelle Hauptversammlung 2.0
Die Möglichkeit, Hauptversammlungen unter Ausschluss der Anwesenheit der Aktionäre rein virtuell abzuhalten, war erstmals aufgrund der Covid-19-Pandemie vom Gesetzgeber eröffnet worden. Die ursprüngliche Regelung vom 27. März 2020 war jedoch befristet und ist Ende August 2022 ausgelaufen.
Durch das am 27. Juli 2022 in Kraft getretene Gesetz zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften und Änderung genossenschafts- sowie insolvenz- und restrukturierungsrechtlicher Vorschriften (BGBl. 2022 I 1166) wurde die virtuelle Hauptversammlung nun dauerhaft im Aktiengesetz verankert. Das neue Regelungsregime weicht teils deutlich von bisher bestehenden Regelungen ab, da Aktionäre in der virtuellen Hauptversammlung („vHV“) die gleichen Rechte haben sollen, wie in einer Präsenzhauptversammlung („Präsenz-HV“). Die Präsenz-HV wird sozusagen virtualisiert.
Die folgende Darstellung gibt einen Überblick über die rechtlichen Anforderungen und Gestaltungsoptionen, ergänzt um konkrete Handlungsempfehlungen für die Praxis.
§ 118a AktG ist die zentrale neue Vorschrift für die virtuelle Hauptversammlung. Sie legt die (Mindest-)Anforderungen für die Durchführung einer virtuellen Hauptversammlung fest.
„§ 118a Virtuelle Hauptversammlung
(1) Die Satzung kann vorsehen oder den Vorstand dazu ermächtigen, vorzusehen, dass die Versammlung ohne physische Präsenz der Aktionäre oder ihrer Bevollmächtigten am Ort der Hauptversammlung abgehalten wird (virtuelle Hauptversammlung). Wird eine virtuelle Hauptversammlung abgehalten, sind die folgenden Voraussetzungen einzuhalten:
Für die Durchführung einer virtuellen Hauptversammlung bedarf es einer entsprechenden Satzungsbestimmung, welche die virtuelle Hauptversammlung entweder grundsätzlich als Regelfall vorsieht oder den Vorstand ermächtigt, die Hauptversammlung in virtueller Form abzuhalten (§ 118a Abs. 1 S. 1 AktG).
Die entsprechende Satzungsbestimmung bzw. -ermächtigung muss befristet sein und darf eine Höchstlaufzeit von fünf Jahren nicht überschreiten. Für die Bestimmung des Zeitraums kann entweder ein konkretes Enddatum oder die Berechnungsmethode des Fristenlaufs angegeben werden. Bei einem Fristbeginn mit Eintragung der Satzungsänderung wäre mit einem Fristende bei „fünf Jahren ab Eintragung“ die Höchstlaufzeit optimal ausgenutzt. Nicht nur die Einberufung, sondern auch die Durchführung der virtuellen Hauptversammlung muss innerhalb dieser Höchstlaufzeit erfolgen. Die Ermächtigung kann dann vor Ablauf erneuert werden.
Die Satzungsbestimmung darf nur das „Ob“ der virtuellen Hauptversammlung regeln und kann keine Vorgaben über das „Wie“ der konkreten Ausgestaltung machen.
Praxishinweis
In der laufenden HV-Saison greift für Hauptversammlungen, die bis einschließlich 31. August 2023 einberufen werden, eine Übergangsregelung. Bis dahin kann der Vorstand mit Zustimmung des Aufsichtsrats auch ohne entsprechende Satzungsbestimmung entscheiden, die Hauptversammlung virtuell durchzuführen (§ 26n Abs. 1 EGAktG).
Eine vHV erfordert die Übertragung der gesamten Veranstaltung in Bild und Ton (§ 118a Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AktG). Dies kann über ein speziell eingerichtetes zugangsbeschränktes Online-Aktionärsportal, einen Livestream oder auch durch die Verwendung der üblichen Videokonferenzdienste (z. B. Zoom) erfolgen. Letzteres wird sich wohl nur bei einem sehr überschaubaren Aktionärskreis anbieten. Bei der Übertragung müssen die zwingend am Ort der Versammlung anwesenden Personen zu sehen sein.
Zu den zwingend anwesenden Personen zählen der Versammlungsleiter, die Gremienmitglieder, der Notar (sofern eine notariell beurkundete Niederschrift über die Hauptversammlung anzufertigen ist) sowie der Abschlussprüfer (sofern die Hauptversammlung ausnahmsweise den Jahres- und/oder Konzernabschluss feststellen soll). Ein von der Gesellschaft benannter Stimmrechtsvertreter kann, muss aber nicht, physisch an der Versammlung teilnehmen.
Praxishinweis
Die Stimmrechtsausübung ist bei der vHV im Wege elektronischer Kommunikation, namentlich über elektronische Teilnahme (praktisch selten) oder elektronische Briefwahl sowie über Vollmachtserteilung zu ermöglichen (§ 118a Abs. 1 S. 2 Nr. 2).
Praxishinweis
Den elektronisch zur vHV zugeschalteten Aktionären wird durch die neuen Regelungen das Recht eingeräumt, Anträge (auch Geschäftsordnungsanträge sowie Sachanträge) und Wahlvorschläge im Wege der Videokommunikation während der Versammlung zu stellen (§ 118a Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AktG).
Im Vorfeld der Hauptversammlung eingereichte und zugänglich zu machende Gegenanträge und Wahlvorschläge von ordnungsgemäß legitimierten Aktionären werden nach der sog. Fiktionslösung weiterhin so behandelt, als wären sie in der Hauptversammlung gestellt (§ 126 Abs. 4 S. 1 AktG).
Praxishinweis
Den Aktionären ist bei der vHV ein vollumfängliches Auskunftsrecht nach § 131 AktG im Wege der elektronischen Kommunikation einzuräumen (§§ 118a Abs. 1 S. 2 Nr. 4, 131 AktG).
Bei der Ausgestaltung des Auskunftsrechts räumt der Gesetzgeber zwei unterschiedliche Gestaltungsmöglichkeiten ein:
(Vorzugswürdige) Grundform: Fragen ausschließlich in der HV
Die Angleichung des Auskunftsrechts an dasjenige in der Präsenzversammlung erfolgt in der Grundform dadurch, dass das Auskunftsrecht nur in der Versammlung im Wege elektronischer Kommunikation ausgeübt werden kann. Hierbei kann der Versammlungsleiter festlegen, dass das Auskunftsrecht ausschließlich im Wege der Videokommunikation und nicht parallel auch über die sonstigen elektronischen Kommunikationskanäle (typischerweise ein Textfeld im Aktionärsportal, sonstige Chat-Funktionen oder E-Mail) ausgeübt werden kann (§ 131 Abs. 1f AktG). Während der Versammlung sind in diesem Fall Beschränkungen des Fragerechts (z. B. Redezeit, Schließung der Rednerliste) ebenso durchsetzbar wie in der Präsenzversammlung.
Praxishinweis
Alternative: Pflicht zur Vorabeinreichung von Fragen mit Nachfragen in der HV
Alternativ hat der Vorstand die Möglichkeit, festzulegen, dass Fragen der Aktionäre bis spätestens drei (3) Tage vor der Hauptversammlung im Wege der elektronischen Kommunikation einzureichen sind. Dabei kann der Umfang der Fragen in der Einberufung „angemessen“ sowie auf ordnungsgemäß angemeldete Aktionäre beschränkt werden.
Wählt der Vorstand diesen Weg, sind die eingereichten Fragen allen Aktionären spätestens bei Ablauf der Einreichungsfrist zugänglich zu machen.
Bis spätestens einen (1) Tag vor der Versammlung, sind den Aktionäre die entsprechenden Antworten zu den eingereichten Fragen zugänglich zu machen. Die Gesellschaft sollte darauf achten, die hierfür erforderlichen Kapazitäten bereitzuhalten. Für das Zugänglichmachen der Fragen und Antworten macht das Gesetz keine Vorgaben, sodass ein Zugänglichmachen über das Aktionärsportal naheliegt. Börsennotierte Gesellschaften müssen Fragen und Antworten jedoch zwingend über die Internetseite der Gesellschaft zugänglich machen.
Damit die Aktionäre eine bessere Grundlage für ihre Fragen haben, hat die Gesellschaft ebenso die Vorstandsrede sieben (7) Tage vor der HV zu veröffentlichen.
In der Hauptversammlung haben die Aktionäre dann ein Nachfragerecht zu allen vor und in der Versammlung gegebenen Antworten (sog. „Über-Kreuz-Fragen“) sowie ein Fragerecht zu neuen Sachverhalten, d. h. zu Sachverhalten, die erst nach Ablauf der Frist zur Frageneinreichung entstanden sind.
Praxishinweis
Aktionäre haben bei der vHV die Möglichkeit, im Wege elektronischer Kommunikation bis fünf (5) Tage vor der Versammlung Stellungnahmen zur Tagesordnung zu übermitteln (§ 118a Abs. 1 S. 2 Nr. 6 AktG sowie § 130a Abs. 1 bis 3 AktG). Diese sind dann allen anderen Aktionären bis spätestens vier (4) Tage vor der Hauptversammlung zugänglich zu machen. Wie bei Fragen und Antworten macht das Gesetz grundsätzlich keine Vorgabe über die Art des Zugänglichmachens. Börsennotierte Gesellschaften müssen jedoch Stellungnahmen wiederum über ihre Internetseite veröffentlichen, sofern sich die Gesellschaft in der Einberufung nicht vorbehält, Stellungnahmen nur ordnungsgemäß angemeldeten Aktionären zur Verfügung zu stellen (z. B. über das zugangsbeschränkte Aktionärsportal).
Der Gesellschaft ist es freigestellt, welches Format sie für Stellungnahmen vorgibt. Textform, Video oder auch mehrere unterschiedliche Formate können parallel vorgesehen werden.
In der Einberufung kann der Umfang von Stellungnahmen angemessen beschränkt werden (§ 130a Abs. 1 S. 2 AktG). Stellungnahmen, durch deren Veröffentlichung sich der Vorstand strafbar machen würde, die in wesentlichen Punkten offensichtlich falsche oder irreführende Angaben oder Beleidigungen enthalten, oder die von Aktionären abgegeben werden, die bereits deutlich zu erkennen geben, sich nicht zu der Versammlung elektronisch zuschalten lassen zu wollen, müssen nicht zugänglich gemacht werden.
Praxishinweis
Die elektronisch zugeschalteten Aktionäre haben in der vHV ein Rederecht, welches sie im Wege der Videokommunikation wahrnehmen können (§ 118a Abs. 1 S. 2 Nr. 7, § 130a Abs. 5 AktG). Hierfür ist das von der Gesellschaft vorgegebene Format der Videokommunikation zu verwenden. Das Rederecht soll die Generaldebatte der Präsenz-Versammlung nachbilden und erfordert daher eine Zwei-Wege-Direktverbindung.
Im Rahmen des Redebeitrags dürfen auch (Gegen-)Anträge und Wahlvorschläge vorgebracht sowie (Nach-)Fragen gestellt werden. Dies gilt auch dann, wenn hierfür eigentlich ein anderer Kommunikationskanal vorgesehen ist (beispielsweise Textfeld im Aktionärsportal).
Eine zeitlich angemessene Beschränkung des Rederechts kann – wie auch bei der Präsenzveranstaltung – durch den Versammlungsleiter vorgesehen werden. Darüber hinaus darf sich die Gesellschaft in der Einberufung vorbehalten, die Funktionsfähigkeit der Videokommunikation vorab zu prüfen und den Aktionär zurückzuweisen, wenn diese nicht sichergestellt ist (§ 130a Abs. 6 AktG). Dies gilt analog für das Auskunftsrecht, sofern auch hier die Videokommunikation vorgegeben wurde. Fällt der Funktionstest negativ aus, kann die Wortmeldung des betroffenen Aktionärs zurückgewiesen werden. Der Gesellschaft bleibt es aber unbenommen, eine beispielsweise telefonische Übertragung anzubieten. Fällt jedoch der Funktionstest auch bei anderen Aktionären negativ aus, muss auch diesen Aktionären wegen des Gleichbehandlungsgrundsatzes dieselbe telefonische Ausweichmöglichkeit angeboten werden.
Praxishinweis
Die elektronisch der vHV zugeschalteten Aktionäre haben das Recht, Widerspruch gegen Hauptversammlungsbeschlüsse im Wege der elektronischen Kommunikation einzulegen (§ 118a Abs. 1 S. 2 Nr. 8 AktG). Es ist nicht erforderlich, dass der betreffende Aktionär zuvor sein Stimmrecht ausübt, sodass auch Vorzugsaktionäre das Recht haben, Widerspruch einzulegen.
Praxishinweis
In das Teilnehmerverzeichnis der vHV sind die elektronisch zugeschalteten Aktionäre bzw. deren Vertreter sowie die Stimmrechtsvertreter der Gesellschaft aufzunehmen (§ 129 Abs. 1 S. 3 AktG). Das Verzeichnis ist allen zugeschalteten Aktionären bzw. deren Vertretern noch vor der ersten Abstimmung, z. B. über einen Link oder über das Aktionärsportal zugänglich zu machen (§ 129 Abs. 4 AktG).
Praxishinweis
Die Gründe, die für oder gegen die Abhaltung einer virtuellen Hauptversammlung sprechen, können sich von Gesellschaft zu Gesellschaft stark unterscheiden. Dabei sind die Größe der Gesellschaft und ihre Aktionärsstruktur von besonderem Gewicht. Aber auch Aspekte wie das Unternehmensprofil und eine ggf. besondere Offenheit gegenüber Innovationen (gerade für Gesellschaften im Technologiesektor) könnten eine entsprechende Aktionärserwartung hervorrufen und für die virtuelle Hauptversammlung sprechen.
PRO | + / - | CONTRA |
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Die elektronische Zuschaltung zur virtuellen Hauptversammlung ist für Aktionäre zunächst einmal weniger aufwendig als eine physische Teilnahme am Versammlungsort, da eine etwaige Anreise und ggf. Übernachtungskosten entfallen. In der Praxis ist daher mit mehr Teilnehmern und einer höheren Beteiligung von sachinteressierten Aktionären zu rechnen, insbesondere auch im Hinblick auf ein mögliches internationales Aktionariat. Dies war schon in den Pandemiejahren zu beobachten. Unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten ist relevant, dass bei der virtuellen Hauptversammlung dadurch auch weniger Treibhausgase anfallen.
Die Durchführung einer virtuellen Hauptversammlung erfordert allerdings ein höheres Maß an Digitalkompetenz auf Seiten der Gesellschaft und insbesondere des Versammlungsleiters. Dieser muss zusätzlich zu den sonst üblichen Leitungsfunktionen auch mit der Aktionärskommunikation im elektronischen Wege souverän umgehen können.
Unter dem Kostenaspekt entfallen die Kosten für die Anmietung eines Veranstaltungsortes, die Technik sowie die Aktionärsverpflegung. Dagegen dürften die Kosten für die Bereitstellung des gegenüber den Vorjahren deutlich komplexeren Aktionärsportals wohl steigen.